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Kapitalismus

Er hat den Kalten Krieg für sich entschieden und diktiert die Bedingungen, unter denen wir unser Leben führen. Was aber ist der Kapitalismus eigentlich? Wie fing er an, wie entwickelte er sich, wie sieht seine Zukunft aus? Der englische Soziologe James Fulcher liefert eine verständliche Einführung in das derzeit weltweit vorherrschende Wirtschaftssystem.
Woher kommt der Kapitalismus?
Der Kapitalismus erlebte seinen Durchbruch in Großbritannien. So ist die Frage nur logisch, welche Gründe ihm in Großbritannien einen besonders fruchtbaren Boden für sein Wachstum bereiteten. Tatsächlich geben sich manche Darstellungen der Ursprünge des Kapitalismus auch mit der Beantwortung dieser Frage zufrieden. Ellen Meiksins Woods 1999 erschienenes Buch spürt seinen Ursprung in England auf, und zwar, vielleicht überraschenderweise, im Bereich der Landwirtschaft, in den Beziehungen zwischen Grundherren, Pächtern und Bauern. Der erste Abschnitt des hier vorliegenden Kapitels verfolgt eine ähnliche Argumentationslinie, die Woods Ansatz viel verdankt. Doch können wir uns damit begnügen? Das Kapitel wird in der Folge darlegen, dass der Kapitalismus letzten Endes als ein europäisches Phänomen betrachtet werden muss. Bei der Untersuchung der Ursprünge des Kapitalismus ist die Frage nicht so sehr, warum er sich in Großbritannien entwickelte, sondern warum er in Europa entstand.
Großbritannien entwickelte im 19. Jahrhundert als erstes Land eine Industriegesellschaft, doch hatte diese Industrialisierung eine Voraussetzung: den Durchbruch des Kapitalismus während des 18. Jahrhunderts. Die Ausbreitung von Marktbeziehungen und wachsender Konsum erzeugten eine genügend große Nachfrage, um Investitionen in die industrielle Produktion lohnend erscheinen zu lassen. Das Bedürfnis, Geld zu verdienen, das für Güter ausgegeben werden konnte, ließ die Menschen Beschäftigung in der Industrie suchen, obwohl die Industriearbeit monoton und die Arbeitsbedingungen oft schrecklich waren. Die Kontrolle der Arbeit durch die Kapitaleigner ermöglichte diesen, die Produktivität durch die Konzentration der Arbeiter in Fabriken, die Einführung von Maschinen und neuartigen Organisationsformen der Arbeit zu erhöhen.
Schon im 18. Jahrhundert liefern die Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern klare Hinweise auf kapitalistische Beziehungen. Die Entstehung von Gewerkschaften und erste Arbeitskämpfe in der Industrie werden landläufig auf das 19. Jahrhundert datiert; tatsächlich aber traten bereits im 18. Jahrhundert organisierte Interessenskonflikte zwischen Arbeit und Kapital auf. Im Verlauf jenes Jahrhunderts organisierten sich die meisten handwerklichen Arbeiter irgendwann in "Vereinigungen" (combinations), den Vorläufern der Gewerkschaften. Sie taten dies einfach deshalb, weil eine kollektive Organisation das einzige Mittel war, mit dem sie sich vor den Versuchen der kapitalistischen Arbeitgeber schützen konnten, die Arbeitskraft durch niedrigere Löhne oder die Beschäftigung weniger gut ausgebildeter Arbeiter zu verbilligen.
Die Wollkämmer der Bekleidungsindustrie im Südwesten Englands gehörten zu den ersten Arbeitern, die sich in dieser Weise organisierten. Im Jahr 1700 gründeten die Wollkämmer von Tiverton eine "Freundesgesellschaft", die versuchte, Mindestlöhne durchzusetzen und die Tuchfabrikanten daran zu hindern, Nichtmitglieder zu beschäftigen. Sie ließen sich auf gewalttätige Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern ein, die aus Irland bereits gekämmte Wolle importieren wollten - ein frühes Beispiel der heute nur zu vertrauten Strategie, die billigere Arbeit im Ausland auszubeuten. Die Wollkämmer reagierten, indem sie irische Wolle verbrannten und die Häuser der Tuchfabrikanten angriffen. Diese Übergriffe führten zu regelrechten Schlachten mit der örtlichen Polizei.
Im 18. Jahrhundert wurden auch erstmals die typisch kapitalistischen Ansichten über die ökonomische Grundlage der Gesellschaft formuliert. In aller Klarheit legte Adam Smith die Vorteile der Arbeitsteilung, des Wettbewerbs, eines freien Marktes und einer am Profit orientierten Produktion dar. Die wichtigen Denker jener Zeit untersuchten die Mechanismen und Prinzipien der kapitalistischen Okonomie, die sie überall um sich herum entstehen sahen. Ihre Ideen wurden dann im 19. Jahrhundert mit einer ganz anderen ideologischen Wendung von Karl Marx in seiner Analyse der Triebkräfte des Kapitalismus zugleich aufgegriffen und kritisiert.
Warum hatte sich die kapitalistische Produktion im Großbritannien des 18. Jahrhunderts so stark ausweiten können? Eine mögliche Erklärung liefert das vorausgegangene Wachstum des Handelskapitalismus. Wie wir im ersten Kapitel sahen, nahm dieser, insbesondere in Form der East India Company, im 17. Jahrhundert einen kräftigen Aufschwung. Sobald einmal Kapital in diesem oder in anderen Handelsunternehmungen aufgehäuft war, konnte es auch in die Produktion investiert werden. Darüber hinaus ermöglichte der internationale Handel das Wachsen weltweiter Märkte für die von der kapitalistischen Industrie produzierten Güter; so wurde im 19. Jahrhundert die Baumwollindustrie Lancashires weitgehend vom indischen Markt abhängig. Der Handelskapitalismus schuf zudem auch neue Formen der Investition in Unternehmensanteile und des Handels damit.
Der Handelskapitalismus war jedoch keineswegs so eng mit der kapitalistischen Produktion verbunden, wie man aufgrund dieser Tatsachen vermuten könnte. Es war die inländische und nicht die ausländische Nachfrage, die das Wachstum der Produktion im 18. Jahrhundert erzeugte. Überdies waren die im Fernhandel tätigen Unternehmungen, wie wir im ersten Kapitel sahen, kaum daran interessiert, die Produktionskosten zu reduzieren. Im Wesentlichen wollten sie Geldgewinne aus den immensen Unterschieden zwischen dem Einkaufspreis für die Waren im Orient und ihrem Verkaufspreis in Europa erzielen. Sie waren deshalb mehr daran interessiert, die Märkte zu manipulieren, als daran, die Arbeit zu organisieren. Falls sie ihr Kapital anderweitig investieren wollten, dann liehen sie es lieber zu einem guten Zinssatz an Regierungen aus, insbesondere an Herrscher, die immer wieder Kriege finanzieren mussten.


James Fulcher
Kapitalismus
Reclam, 2007, 978-3-150183-97-7