Anarchitektur
Anlass dieser Arbeit ist ein Notat Walter Benjamins aus den Paralipomena zu seinem Kafka-Essay: »{Keine menschliche Kunst erscheint bei Kafka so tief kompromittiert wie die Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner macht die Ratlosigkeit sich vernehmbarer. (Beim Bau der Chinesischen Mauer, Das Stadtwappen, Der Bau)}.«
Weder für die Kafka- noch für die Benjamin-Philologie ist dieser Befund Anlass gewesen, jener fundamentalen Behauptung nachzugehen. Damit wurde eine Lücke offengelassen, die Benjamin selbst nicht hatte schließen können. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Aufnehmen der »Spur seiner Texte« und bewegt sich auch methodisch im Horizont von Benjamins philologischem und kulturwissenschaftlichem Denken. Die Arbeit konzentriert sich auf die textuelle Funktionsweise von Architektur. Was bedeutet Kafkas Spiel mit Grenzen, Toren, Türen, leeren Räumen und Brücken; wie sind die Einstürze von Wand und Decke; und wie seine irritierenden Plätze zu verstehen? Bei der Beantwortung dieser Fragen rückt weniger die Architektur als ›Thema‹, rücken weniger die symbolischen und figurativen Qualitäten von Architektur als vielmehr das textuelle Material der Literatur selbst, die Wörtlichkeit, ins Zentrum der Studie. Auf diesem Wege löst sich das Rätsel von Benjamins Feststellung, wobei die ›Architextur‹ – also das Feld gegenseitiger Verweisungen zwischen Architektur und Textualität – als das herauspräpariert wird, was Kafkas ureigenstes Anliegen ist: als Schauplatz seiner Arbeit an und mit der Sprache an ihrer Schwellenposition zwischen Schöpfung, Signifikation und Entschöpfung.
Dem Corpus von Lektüren gehen zwei diskursive Kapitel voran. Deren erstes befasst sich mit der Rekapitulation wichtiger Topoi und Theoreme aus der Frühphase der Kafka-Philologie, in der auch Benjamins Überlegungen zu verorten sind, deren zweites konturiert zentrale Ideen der architekturtheoretischen Diskurse um 1900. Diese dienen mal als Folie, figurieren mal als Kontrastmittel oder zeigen, in konstellativen »Spannungsverhältnissen« mit den Lektüren, wie weit Kafka dem architektonischen Denken seiner Zeit voraus war.
Die Lektüren selbst, die das ganze Spektrum von Kafkas ›ab-bauendem‹ Text-Bau – seine Anarchitektur – ausloten wollen, laufen mithin auf eine genuine Poetik seines Schreibens zu.