The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören
Eine glänzende Erzählung lässt uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts über seine Musik neu erleben. Alex Ross, Kritiker des New Yorker, bringt uns aus dem Wien und Graz am Vorabend des Ersten Weltkriegs ins Paris und Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre, aus Hitler-Deutschland über Russland ins Amerika der Sechziger und Siebziger Jahre. Er führt uns durch ein labyrinthisches Reich, von Sibelius bis Lou Reed, von Mahler bis Björk. Und wir folgen dem Aufstieg der Massenkultur wie der Politik der Massen, den dramatischen Veränderungen durch neue Technologien genauso wie den Kriegen, Experimenten, Revolutionen und Aufständen der zurück-liegenden hundert Jahre. »Eine unwiderstehliche Einladung, sich mit den großen Themen des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen.« Fritz Stern
Eine Amazon-Kundenrezension:
Musik statt Chaos - ein Amerikaner erklärt uns das Wesentliche und geht dafür ins Detail, 14. November 2009
Von Riyad Salhi "Riyad Salhi" (Frankfurt) (TOP 500 REVIEWER) (REAL NAME)
Ich bitte die fast schon ungehobelte Länge meiner Anmerkungen zu entschuldigen. Meine Gedanken zu diesem Buch kann ich nur begrenzt bändigen. Sie können das Sichten des Textes abkürzen, indem Sie drei beliebige Abschnitte lesen und die übrigen auslassen. Auch bei der verkürzten Lektüre dürfte einleuchten, dass dieses Buch ein Meilenstein ist. Aber vermutlich wissen Sie das auch ohne mich.
I. Jemand fragt mich, wie er sich nicht nur in die Neue Musik einfinden soll, sondern wie alles begann, wie sich das Delta der Stilismen und Manierismen, der Zwölftondiktatur, des neotonalen Wohlklangs entwickeln konnte, ja was das denn nun alles "bedeutet" nach Strauss, Mahler und Stravinsky, und dieser interessierte Mensch will nicht zehn Monographien lesen oder Expertenbücher, in denen Satzungetüme übereinander geschichtet werden, die Analyse wichtiger ist als die Wirkung eines Stückes, sondern will musikhistorische Fixpunkte erkennen, anekdotische Einsprengsel würden ihn auch nicht stören, doch der große Bogen muss deutlich werden, der Schreibstil darf nicht unterfordern, der Autor muss ein ausgewiesener Kenner sein, der ordnet, gewichtet, aufzeigt, weglässt. Dann rate ich diesem Menschen: Lies Alex Ross. Sein Buch "The Rest ist Noise" hat Kritiker zu Recht in einen Begeisterungstaumel gestürzt. Man kann es kurz halten wie Neil Tennant ("Excellent!") oder gerne auch ausführlicher werden, warum Ross eine entscheidende Lücke geschlossen hat. Man vergesse die indiskutable Rezension in der ZEIT, die einen von tausend Aspekten unmäßig vergrößert und daraus ein lauwarmes Werturteil ableitet. Dieser Block Papier bietet die mit Abstand beste Übersicht auf das vergangene Musikjahrhundert. Man wird ein verständigerer Mensch dadurch. Man wird durch seine Lektüre nicht Brian Ferneyhough verstehen (der auch nur kurz erwähnt wird), aber so viel Klarheit und Folgerichtigkeit war noch nie. So viel Präzision, so wenig kurzatmiges Name-dropping (zu dem beispielsweise Jean-Noel von der Weid neigt), so viel erhellender Background (nicht nur musikalischer, auch politischer Natur), so wenig Selbstbezüglichkeit und Eigenlob, so viel wundervoll erdachte Metaphorik bei der Beschreibung von Stücken, so wenig Besserwisserei und professorales Theoriegesummse.
II. Auf Seite 377 endet das intensivste, erkenntnisreichste Kapitel ("Todesfuge") mit dem Jahr der Kapitulation. So lange lässt sich Ross Zeit, um sehr ausführlich über Richard Strauss, Gustav Mahler und Igor Stravinsky zu erzählen, aber auch über farbige Komponisten in den Staaten, die aufkommende Jazz-Ästhetik und wie sie die Kunstmusik allmählich durchdringt, und natürlich wie der Schönberg-Clan sein Terrain absteckt, sich einigelt, Krallen ausfährt. Es gibt etliche Arbeiten über diese Herren, die man nennen muss, wollte man sein Wissen sinnvoll verbreitern. Ross gibt uns hingegen den Panoramablick und gleitet immer wieder hinab auf Details, damit wir das große Ganze nicht aus den Augen verlieren, uns aber nicht im Allgemeinen verfransen. Er ist niemand, der alles irgendwie streift, sondern stellt oft genug auf Tiefenschärfe, mit Strauss beschäftigt er sich recht lange, und es ist ein Gewinn auf jeder Seite. Ross zitiert nicht aller Nasen lang aus Büchern, repetiert nicht fest verankerte Vorstellungen, man murmelt durchaus nicht "Ach, weiß ich doch schon", sondern ist erstaunt über Querverbindungen, über gefundene Quellen und seine gestochenen Werkvorstellungen, von denen insbesondere Amateur-Rezensenten viel lernen können. Man glaube jedoch nicht, dass einem gänzlich Unwissenden, der noch nie einen Text über ernste Musik gelesen hat, alles sofort einleuchtet. Auf solche Sätze stößt man bisweilen auch (zu zweiten der "Sechs kleinen Klavierstücke" Schönbergs): "Es baut auf einer beschwörenden Wiederholung des Intervalls G-H auf... Tontentakel züngeln um diesen Zweiklang, berühren irgendwann alle übrigen zehn Töne der chromatischen Leiter, doch die beiden Haupttöne bleiben festgenagelt an Ort und Stelle. Sie sind wie zwei Augen, die ohne zu blinzeln geradeaus starren."
III. Geschichten über Komponisten bergen manchmal auch Komik, so dass man bei Ross immer wieder zum Auflachen gereizt wird. Ein Tonsetzer, der die Massen gar nicht erreichen will, muss zwangsläufig ein Egomane, ein radikaler Geist sein. Alleine über Stockhausen kann man sich ein witziges, geistreiches Buch nur über seine Eskapaden, Standpunkte und Streitereien (und über sein Liebesleben natürlich auch) ausdenken. Ross weiß eine Menge über solche Dinge, doch er bleibt streng bei der Musik - gossipfrei bis zur letzten Seite erwähnt er Dinge, das Gros wird er von den (lebenden) Komponisten selbst erfahren haben. Zum Beispiel wusste Tan Dun bei seiner Aufnahmeprüfung nicht, wer Mozart war. Ross hat John Adams in seiner Riesenscheune besucht, die er zeitweise an einen lokalen Holzfäller vermietet. Er weiß auch, dass im Darmstädter Schlosskeller 1967 - Ligeti und andere waren dort - das Beatles-Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" lief und Diskussionen auslöste, da in dem Song "A Day in the Life" zwei Ad-Libitum-Passagen enthalten sind, die sich eindeutig aus den Entdeckungen der Neuen Musik speisen, insbesondere die Klangstatik Morton Feldmans. Er erwähnt auch den ziemlich lustigen Eintrag von Olivier Messiaen in sein Tagebuch, wie er den jungen Pierre Boulez einschätzt: "Er mag moderne Musik." Ross nennt das die Untertreibung des Jahrhunderts. Wir reden von einem stürmischen Mann, der seine Widmung an den einstigen Mentor René Leibowitz mit einem Brieföffner nachträglich unkenntlich macht, indem er wild auf die erste Partiturseite des eigenen Werkes einsticht. Boulez wusste in jüngeren Jahren wirklich alles besser. Wer weniger radikal war als er, war dumm und unnütz.
IV. Ross kann eine Affinität zu Strauss, Copland und dem Phänomen des Post-Minimalismus nicht verbergen. Zwar findet er auch für Helmut Lachenmann fein abgestimmte Worte, doch sein Herz hängt woanders. Man muss davon ausgehen, dass Ross über deutsche, finnische oder spanische E-Musik genauso viel weiß wie die Herren Metzger, Dibelius und Häusler, gewiss wandelt er auf der selben Höhe wie Paul Griffiths oder Richard Toop. Für "The Rest is Noise" hat er sieben Jahre lang recherchiert, geordnet, gekürzt und geschrieben, freilich in seiner Freizeit, schließlich hat Ross noch für den "New Yorker" zu arbeiten, muss mal schnell nach Kopenhagen, um eine Oper von Poul Ruders zu sehen usw. - der Mann kommt viel rum und trifft oft genug auf Komponisten, Dirigenten, Pianisten, setzt sich Werken jeglicher Coleur aus, interessiert sich auch für John Zorn oder Sonic Youth. Das hat dem Buch sehr geholfen. Es ist nicht nur angelesen und durch Hören entstanden, sondern durch Dialoge mit schaffenden Menschen. Jaja, Adorno kommt auch darin vor. Und Eisler, Weill, erst recht Gershwin, der mit Schönberg Tennis spielte. Immerhin bekommt Wilhelm Killmayer drei Zeilen. Sogar Björks "An Echo, a Stain" wird als Beispiel heran gezogen, wie sehr die Neue Musik den Pop beeinflussen kann, was laut Ross öfter vorkommt, als man zunächst glauben mag. Umgekehrt natürlich auch.
V. Das Buch enthält lange, zentrale Kapitel auch zu Schostakowitsch und Britten. Fast zehn Seiten beschreibt er Libretto, Musik und Wirkung von "Peter Grimes". Das Schicksal des Russen zwischen Freigeistigkeit und Repression wird präzise, spannend und in all seiner Widersprüchlichkeit verarbeitet. Schostakowitsch bekam übrigens die Partitur zu "Death in Venice" zu sehen, bevor sie je ein Dirigent aufgeschlagen hat. Ross kommt immer wieder auf "Doktor Faustus" von Thomas Mann zurück. Auf das Diabolische, das Unheilvolle in der Musik (nicht nur der in Deutschland). Es gibt da ein paar Breitseiten gegen Milton Babbitt und alle, die nach stacheldrahtumzäunten Systemen Töne organisieren.
VI. Ich wusste so vieles nicht von Galina Ustwolskaja (Schostakowitsch legte ihr in den 60ern einige seine Partituren zur Prüfung vor) oder von Toru Takemitsu (sein Erweckungserlebnis als Kind war ein Chanson), von Karl Amadeus Hartmann (der einen Hitlergruß zuweilen nicht verweigerte) und Adolf Hitler selbst, von dem man hier Dinge erfährt, die noch nicht einmal Ian Kershaw in seiner umfänglichen Biographie aufgreift. Manchmal sind es nur wenige Striche, die Ross benötigt, um einen Künstler zu zeichnen. So bekommen Schnittke (immer etwas "gequält und fahl wirkend") oder Steve Reich ("Mit seinem schwarzen Button-Down-Hemd und seinem Markenzeichen, der Baseballkappe, würde man ihn eher für einen Regisseur von Independent-Filmen, einen Professor für Cultural Studies (...) halten.") in wenigen Sätzen Konturen. Über Cage gibt es herrliche Begebenheiten, doch Ross nutzt jeden Fund, um uns etwas anderes zu zeigen, nicht um zu unterhalten (das tut er eher nebenbei): Er will das Individuum zeigen, dass ganz bestimmten Einflüssen in einer ganz bestimmten Umgebung ausgesetzt ist, diese umformt in Musik und das Material auf eine bestimmte Weise bändigt. Das hat nicht nur mit den ästhetischen Werturteilen der jeweils herrschenden Elite zu tun, sondern auch mit der Erziehung, den Eigenarten, den Freunden, mit denen man sich umgibt. Deshalb all diese biographischen Splitter. Von der selbst gewählten Hobo-Existenz Harry Partchs muss man wissen, wenn man die Gründe für seine Musik erforschen will.
VII. Vielleicht bleibt in hundert oder dreihundert Jahren von der Neuen Musik nur Arvo Pärt übrig. "Für einige Menschen erfüllte Pärts seltsame spirituelle Reinheit auch verzweifeltere Bedürfnisse; eine Stationsschwester in einem New Yorker Krankenhaus spielte jungen Männern, die an AIDS starben, regelmäßig "Tabula rasa" vor. An ihren letzten Lebenstagen verlangten sie es immer und immer wieder zu hören."
VIII. Ein Buch wie dieses beweist seine inspirative Kraft vor allem dann, wenn der Leser noch während der Lektüre immer wieder zum Notebook rennen muss, um...