Florian Kaiser and Guobin Shen. Unfertige Häuser 未完的建築 (Atelier Kaiser Shen)
Architekten versuchen meist, »fertige« Häuser, mithin in sich schlüssige Baukunstwerke für die Ewigkeit zu erschaffen. Aber hält dieser Anspruch der Realität stand? Sollte das überhaupt der Anspruch sein? Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich das Bauwerk nach Fertigstellung verändert. Inspiriert durch Referenzen aus der Baugeschichte, der Kunst und der Anthropologie, hat das junge Atelier Kaiser Shen zu Beginn seiner Praxis verschiedene Thesen entwickelt und diese anhand von eigenen Projekten überprüft. Zentral wird die Frage erörtert, wie sich Bauwerke in ihrer Lebensdauer aufgrund von äußeren Einflüssen verändern und was dieser Wandel für die Permanenz in der Architektur und für die Raumidee bedeutet. In früheren Zeiten war es gängige Praxis, auf bestehenden Strukturen aufzubauen. So überlagern sich bei den meisten Gebäuden, die über mehrere Jahrhunderte erhalten geblieben sind, unzählige Zeitschichten. Besonders anschaulich ist dies etwa bei den An- und Umbauten von Kathedralen zu beobachten. Aufgrund neuer Rahmenbedingungen und Nutzungsan-forderungen wurden Bauwerke stets pragmatisch im aktuell gültigen Baustil weiterentwickelt. Die Zeitschichten sind häufig nur von Experten auseinanderzuhalten. Nur einige wenige Bauwerke werden von der Gesellschaft als so herausragend angesehen, daß sie in einer festgelegten Zeitschicht konserviert und musea-lisiert werden. Eine solche Konservierung ist jedoch eher unna-türlich und nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen. In diesem Buch sollen daher vielversprechende Strategien aufgezeigt werden, wie »unfertige« Häuser, mit Räumen ohne Eigenschaften, weitergebaut und an die gegen-wärtigen Rahmenbedingungen angepaßt werden können. Eine gute Struktur bedeutet für das Atelier Kaiser Shen eine zukunftssichere Raumidee zu entwickeln, und ist auch nicht auf das Tragwerk zu reduzieren. Beim Weiterbauen soll auf dieser architektonisch-räumlichen Idee aufgebaut werden können. Da ein Umbau diese im Extremfall sogar zerstören kann, gilt es ein Potenzial zu schaffen, das von den Weiterbauenden erkannt und aufgegriffen wird. Im Idealfall hat das Bauwerk eine so starke Raumidee, daß diese kommende Umbauten übersteht und dann noch immer tragfähig ist.