Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues
Justizministerin Rachida Dati gilt wegen ihrer Herkunft aus einer nordafrikanischen Einwandererfamilie als Aushängeschild der französischen Regierung. Sie scheint die dreifache Benachteiligung überwunden zu haben, die Geschlecht, soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit normalerweise bedeuten. Doch die Mehrzahl der heute in Frankreich lebenden Menschen, die dem sozialen Profil der Justizministerin entsprechen, sind nicht nur besonders stark von Arbeitslosigkeit, Beschäftigungsunsicherheit, Armut und schlechten Wohnverhältnissen betroffen, sondern potentielle Opfer fremdenfeindlicher oder rassistischer Angriffe. Sie alle leben in einer Gesellschaft, die negative Diskriminierung offiziell verbietet und gleichzeitig massiv praktiziert. Dieser denkwürdige Widerspruch kristallisiert sich in der Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den französischen Banlieues, deren Revolte vom Herbst 2005 nach Robert Castel Ausdruck einer Enttäuschung ist. Erfahren zu müssen, dass die Hautfarbe, der Name oder die Adresse dazu führen, dass man keine Arbeit bekommt, bedeutet nicht nur das Fortbestehen von Armut und Hoffnungslosigkeit, sondern wird auch als Ungerechtigkeit erlebt und als Angriff auf die eigene Würde. Castel arbeitet heraus, dass die Situation der eingewanderten Arbeiter durch die Gleichsetzung des Islam mit dem Islamismus – heute als Bedrohung unseres Gesellschaftssystems schlechthin wahrgenommen – noch problematischer wird und der ihnen entgegengebrachte, mit Verachtung gemischte Argwohn sich in eine Angst vor dem Muslim verwandelt, der die Grundlagen der westlichen Zivilisation in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund erkennt Castel selbst im Abbrennen von Autos eine Botschaft: In den Banlieues wurde unübersehbar, dass den dort lebenden Franzosen die politischen und sozialen Bürgerrechte vorenthalten werden. Robert Castel untersucht anhand der Jugendunruhen die Stigmatisierungs- und Deklassierungsmechanismen, die Migranten zu Bürgern zweiter Klasse machen, sowie die auch daraus resultierenden neuen Formen von Prekarität und Ausgliederung. Der Abbau dieser Benachteiligungen kann durch positive Diskriminierungsmaßnahmen gelingen, durch Bildungsförderungsgesetze und eine veränderte Stadtpolitik. Da sich die Probleme des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen durch Migrationsströme und eine neue demographische Konstellation verstärken werden, müssen die Voraussetzungen für einen plurikulturellen und pluriethnischen Staat entwickelt werden. In sofern ist die Banlieue eine Baustelle, auf der viel zu tun, aber auch viel zu lernen ist.