Thomas Macho. Vorbilder
Buchpräsentation mit Thomas Macho und Iris Därmann
Bilder können sich auf Vergangenes oder Zukünftiges beziehen. Im Sinne dieser Unterscheidung sind Vorbilder stets Zukunftsbilder: Sie vergegenwärtigen, was noch nicht da ist, als Entwürfe, Prophezeiungen, Befehle. Vorbilder erinnern nicht, sie nehmen vorweg, sie evozieren, sie
rufen ins Leben. Ihre Botschaften sind manchmal mehrdeutig wie die delphischen Orakelsprüche, doch immer streng: Sie demonstrieren, wie etwas eigentlich aussehen, erscheinen oder auftreten sollte. Pygmalion liebt eine Statue – oder war es eine Puppe? –, bis sie sich in eine lebendige Frau verwandelt. »Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben?« wird Herr Keuner gefragt. Brecht lässt ihn antworten: »Ich
mache einen Entwurf von ihm, und sorge, dass er ihm ähnlich wird«: – nicht der Entwurf, sondern der Mensch. Vorbilder wollen nachgeahmt werden, als »Vorahmungen der Natur« (Blumenberg). Sie erscheinen als Puppen, Masken und Modelle. Sie sind Götter und Göttinnen, Pin-ups und
Stars, Primadonnen und Prominente, und sie faszinieren ihr Publikum als Maßstäbe, Phantasmen und Ideale. Sie verkörpern, was zur Wirklichkeit treibt. In ihnen manifestiert sich ein unbedingter Wille zur Realität;
auch wenn diese Realität im eigenen Tod gipfelt.
»Ich spreche davon, daß Ihr für einige Minuten Euer Bild werdet. Ihr habt es dunkel im Schoß des Ungeheuers geahnt, daß jeder von uns dahin streben soll: zu versuchen, sich selbst in seiner Apotheose zu erscheinen. Daß das Schauspiel Dich schließlich für wenige Minuten verwandelt, geschieht in Dir selbst. Dein kurzes Grab erleuchtet uns. Du bist darin eingesperrt, und gleichzeitig entsteigt ihm unaufhörlich Dein Bild. Das Wunderbare bestünde darin, daß Ihr die Kraft hättet, Euch dort festzuhalten, zugleich in der Manege und am Himmel, in Form eines Sternbildes.«
Jean Genet, Der Seiltänzer (1957)